Etwa vier bis fünf Prozent der sechs bis 12-Jährigen leiden an Aufmerksamkeitsstörungen in Verbindung mit motorischer Unruhe. Da Kinder in diesem Alter noch stark unter dem Einfluss ihrer Eltern stehen, sehen sich viele Mütter und Väter dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Kinder falsch zu erziehen. Doch sind Erziehungsmängel tatsächlich die Ursache dieser Störung?
Schon während der Schwangerschaft wusste Vinzents Mutter, dass ihr drittes Kind auffallend aktiv ist: Der ungeborene Vinzent drehte sich häufig, drückte seine Hände und Füße gegen die Bauchdecke und war überhaupt ständig in Bewegung. Im Unterricht rief er unablässig dazwischen, lief herum oder warf mit Sachen um sich. Weil er leicht aus der Haut fuhr und dann auch handgreiflich werden konnte, wollte niemand mit ihm spielen. Schnell stand er im Ruf, frech und faul zu sein. Auch daheim gab es ständig Streit, weil sich Vinzent nicht an Abmachungen hielt.
Als ein Arzt im Alter von zehn Jahren nach umfangreichen Tests das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) diagnostizierte, hatten seine Eltern endlich eine Erklärung für das impulsive und aggressive Verhalten ihres Sohnes, sein unablässiges Herumzappeln und die Konzentrationsschwäche. Vinzents Lehrern jedoch, den Nachbarn und Eltern anderer Kinder genügte diese Erklärung nicht. Sie hielten die Diagnose ADS für eine Ausrede der offenbar überforderten Eltern. „Die haben ihr Kind nicht im Griff und tun jetzt so, als wäre das eine Krankheit“ hieß es hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand.
Eltern von Kindern, die an ADS leiden, wird häufig direkt oder indirekt vorgeworfen, dass die Kinder nicht krank, sondern einfach nur schlecht erzogen sind. Erzieherinnen, Lehrer und andere Bezugspersonen beschweren sich über das störende Verhalten und setzen die verunsicherten Eltern unter Handlungsdruck. „Bin ich denn unfähig, Kinder zu erziehen?“ fragen sich viele betroffene Mütter und Väter. Manche versuchen es dann mit mehr Strenge, doch mit Schimpfen, Schreien und Strafen ist der vermeintlichen Ungezogenheit nicht beizukommen. Im Gegenteil: Das Kind fühlt sich unverstanden und abgelehnt. Es bekommt Wutanfälle oder resigniert.
Mit Vorwürfen wird den Eltern von ADS-Kindern Unrecht getan, denn diese Veranlagung hat primär nichts mit Erziehung zu tun: Biochemische Funktionsstörungen im Bereich der Informationsverarbeitung zwischen einzelnen Hirnabschnitten scheinen dafür verantwortlich zu sein, dass die Betroffenen von Reizen geradezu überflutet werden. Sie können sich nicht auf das Wesentliche konzentrieren, ihre Aufmerksamkeit wird ständig von neuen Dingen in Anspruch genommen. Auf Außenstehende wirken diese Menschen kopflos und sprunghaft.
Manche Kinder zeigen ADS-typisches Verhalten, ohne dass eine Störung im Neurotransmitterhaushalt vorliegt. Hier kommen andere Ursachen wie etwa ein hyperthyreoter Stoffwechsel, das Restless-Legs-Syndrom, postenzephalitische sowie zerebrale Störungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Erziehungsfehler in Betracht. Eine Abgrenzung ist schwierig, weil es für die Diagnostik von ADS keine objektiven Testverfahren gibt.
Allen Kindern mit ADS-Symptomen, gleich welcher Ursache, helfen folgende Erziehungskonzepte:
Regelmäßigkeit in den Tagesablauf bringen
Da ADS-Kinder ihren Tag nicht selbst planen können, müssen die Eltern eine feste Struktur vorgeben: Frühstück, Hausaufgaben machen, Schlafengehen und andere Alltagsaktivitäten sollten immer zur gleichen Zeit stattfinden. Feste Gewohnheiten und Rituale geben ein Gefühl der Sicherheit und erleichtern dem Kind das Einhalten von Regeln.
Realistische Anforderungen stellen
Es gibt nichts Ungerechteres als die gleiche Behandlung von Ungleichem. Das Alter des Kindes und seine individuellen Lernvoraussetzungen müssen immer berücksichtigt werden. ADS-Kinder sind insbesondere im sozialen Bereich nicht so weit entwickelt wie andere Kinder. Sie können sich schwer in ihr Gegenüber hineinversetzen. Es ist wichtig, diese Kinder nicht zu überfordern.
Klare Wünsche äußern
Ein Kind muss wissen, was genau von ihm erwartet wird. Uneindeutigkeit verwirrt es. Schon die „Aufforderung „Räum dein Zimmer auf!“ ist nicht deutlich genug. Besser ist „Lege die Legosteine in den Bettkasten!“ oder „Stell die Gummistiefel in den Schuhschrank!“ Geben Sie Ihrem Kind nie mehrere Aufgaben gleichzeitig, sondern immer nacheinander. Sonst könnte es passieren, dass es nur einen kleinen Teil erledigt, weil es den Rest wieder vergessen hat.
Einen Gang herunterschalten
Hyperaktive Kinder setzen ihre Impulse sofort in Aktionen um, ohne dabei einschätzen zu können, was sie damit bewirken. Eltern können helfen, indem sie alltägliche Situationen in kleinere Schritte, Zwischenziele und Pausen unterteilen. Durch die Verlangsamung von Abläufen gewinnt das Kind Zeit zur Verarbeitung der Informationen. Es behält so viel eher den Überblick und die Kontrolle. Pausen sind wichtig, denn gerade das hyperaktiv Kind braucht Phasen der Ruhe und Entspannung, in denen es Kräfte sammeln und seine Aufmerksamkeit finden kann. Entspannungsübungen (Autogenes Training, Traumreisen) sind hilfreich und machen Spaß.
Konsequenz
Vermeiden Sie widersprüchliche Aussagen und Handlungen. ADS-Kinder sind besonders empfänglich für Inkonsequenz. Ausnahmen von Regeln darf es nur geben, wenn dies unvermeidbar ist. Nachgiebigkeit wird vom Kind missverstanden und gefährdet den langfristigen Erziehungserfolg.
Lob vor Strafe
Wenn einem Kind immer wieder gesagt wird, wie es nicht sein soll, leidet das Selbstwertgefühl. Dann denkt es: „Es ist egal, was ich tue. Nie kann ich es jemanden recht machen.“ Besser ist es, erwünschtes Verhalten durch Lob zu verstärken. ADS-Kinder haben eine andere Wahrnehmung von den Dingen und von sich selbst. Immer wieder entgehen ihnen Dinge, die sie gut gemacht haben. Erfolgserlebnisse sind jedoch von großer Bedeutung für das seelische Gleichgewicht und die weitere Entwicklung des Kindes. Machen Sie Ihr Kind auf Gelungenes aufmerksam. Zeigen Sie, dass Sie auch die kleinsten Erfolge bemerken und anerkennen. Viele Familien arbeiten mit Belohnungssystemen, bei denen sich die Kinder Wertmünzen verdienen können, die später gegen Begehrtes eingetauscht werden können.
Bei grobem Fehlverhalten, das sich nicht einfach ignorieren lässt, kann eine Strafe unumgänglich sein. Sie muss jedoch in zeitlichem und logischem Zusammenhang mit der zu kritisierenden Handlung stehen. Vermeiden Sie Strafen, die Ihr Kind körperlich oder seelisch verletzen. Strafen dieser Art zerstören das ohnehin schon beschädigte Selbstwertgefühl Ihres Kindes.
Erziehungslast verteilen
Ab und zu müssen Eltern Energie tanken. Um Zeit dafür zu gewinnen, sollten sie die Betreuung Ihres Kindes auf mehrere Schultern verteilen. Verwandte und Freunde sollten jedoch nur angesprochen werden, wenn die von Ihnen aufgestellten Regeln auch dort durchgesetzt werden. Von Vorteil sind Freizeitaktivitäten im Sportverein.
Die Erziehungsbedürfnisse von ADS-Kindern unterscheiden sich nicht grundlegend von denen anderer Kinder: Regelmäßigkeit, keine Überforderung, klare Anforderungen, Zeit zum Innehalten, Konsequenz, mehr Lob und weniger Strafen. Und: Alle Kinder wollen sich in ihrer gesamten Persönlichkeit von ihren Eltern angenommen fühlen. Für Kinder, die aufgrund ihres Verhaltens in der Schule und auf dem Spielplatz auf Ablehnung stoßen, ist es jedoch um so wichtiger, dass sie von den Menschen, die ihnen am nächsten stehen, bedingungslos akzeptiert und geliebt werden.