Einer von vielen?
Clemens gehörte zu den Kindern, die ihren Lehrern Kenntnisse und Fähigkeiten abverlangen, die sie an der Universität nicht erworben haben. Er zappelte auf seinem Stuhl herum, redete, wenn er eigentlich zuhören sollte, unterbrach andere und rief seine Antworten in die Klasse hinein, ohne sich zu melden. Wenn seine Mitschüler Arbeitsbögen ausfüllten, spielte er den Klassenclown. Die Schule schien ihn nicht zu interessieren und um die Hausaufgaben machte er einen großen Bogen. Lieber beobachtete er den Sternenhimmel und bastelte ferne Planeten aus Draht, Pappe und Styropor.
Die meisten Lehrer hielten Clemens für schlecht erzogen und minderbegabt. Lieber wollten sie ihn auf einer Sonderschule sehen als ihn weiter unterrichten zu müssen. Seine engagierte Mutter wusste jedoch schon frühzeitig, dass ihr Sohn Gleichaltrigen in vielen Bereichen um Längen voraus ist. Nur in der Schule konnte Clemens nie zeigen, was in ihm steckt. Er selbst litt am meisten unter der Situation. Aussagen wie „Ungeschickter und dümmer als ich ist wohl keiner“ zeigten deutlich, wie es um sein Selbstwertgefühl bestellt war.
Vor wenigen Wochen ist bei Clemens das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) in Verbindung mit Hyperaktivität diagnostiziert worden. Der betreuende Kinder- und Jugendpsychiater hat neben vielen anderen Untersuchungen einen Intelligenztest durchgeführt. Das Ergebnis: Clemens ist zusätzlich hochbegabt.
Der Zusammenhang zwischen ADS bzw. ADHS und Hochbegabung ist noch weitgehend unerforscht. Aber auch ohne fundierte wissenschaftliche Untersuchungen lässt sich feststellen, dass die für ADS typischen Verhaltensweisen weitgehend identisch sind mit denen schlauer, talentierter und kreativer Menschen. Einige feine Unterschiede gibt es jedoch.
Wie lassen sich ADS und Hochbegabung auseinander halten?
Verhaltensprobleme
Beobachten Sie Ihr Kind in verschiedenen Situationen. Wann zeigt Ihr Kind problematisches Verhalten? Kinder mit ADS fallen in der Regel überall negativ auf: zu Hause, in der Schule, auf dem Spielplatz. Es kann aber durchaus vorkommen, dass diese Kinder in der Familie wahre Engel sind, während sie sich in der Schule völlig daneben benehmen. Dies kann zu einer vollkommen anderen Sichtweise bei den Eltern und Lehrern führen. Eltern sollten den Aussagen der Lehrer Glauben schenken und hervorgebrachte Klagen nicht mit Aussagen wie „Zu Hause ist mein Kind aber ganz anders“ zu entkräften versuchen.
Hochbegabte Kinder hingegen verhalten sich nur in bestimmten Situationen problematisch. In der Schule können Aufmerksamkeitsdefizite häufig auf Langeweile zurückgeführt werden. Kinder, die den Unterrichtsstoff überdurchschnittlich schnell aufnehmen, verbringen bis zu der Hälfte der Unterrichtszeit damit, darauf zu warten, dass es endlich weiter geht. Diese Zeit überbrücken manche hochbegabte Kinder mit Schlafen, Faxenmachen oder anderen Störungen, die durchaus an für ADS typisches Verhalten erinnern können.
Aufmerksamkeit
Kinder, Jugendliche und Erwachsene ADS können ihre Aufmerksamkeit in nahezu jeder Situation schlecht aufrechterhalten. Ausnahmen bilden das Computerspiel, Fernsehen und andere Aktivitäten, die von besonderem Interesse sind: Hier können auch ADS-Kinder über längere Zeiträume bei der Sache bleiben. Hochbegabte schweifen nur in Situationen, die sie unterfordern oder langweilen, mit ihren Gedanken ab.
Ausdauer
ADS-Betroffene zeigen in fast allen Situationen wenig Ausdauer. Es ist wichtig, ihnen möglichst Aufgaben zu geben, die in kurzer Zeit verrichtet werden können. Gerade ADS-Kinder brauchen positive Rückmeldungen in Form echten Lobs. Eltern und Lehrer sollten ihre Freude über die Anstrengungen und Leistungen dieser Kinder deutlich zeigen. Das stärkt das infolge ständiger Misserfolge beschädigte Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl.
Hochbegabte können Probleme mit der Ausdauer haben, wenn ihnen gestellte Aufgaben wenig anspruchsvoll erscheinen. Hierbei handelt es sich jedoch um eine bewusste Entscheidung, ein Nichtwollen, während ADS-Kinder aufgrund ihrer Veranlagung nicht anders können.
Einhalten von Regeln
Menschen mit ADS können Regeln nur schlecht einhalten. Eltern sollten sich fragen, welche Regeln für das Zusammenleben unabdingbar sind und sich auf diese wenigen, aber wirklich wichtigen Punkte beschränken. Alles andere überfordert Kinder mit ADS.
Hochbegabte können sich durchaus an Vereinbarungen erinnern und diese auch befolgen. Sie neigen aber dazu, Vorschriften zu hinterfragen, wenn sie ihnen unlogisch erscheinen.
Hyperaktivität
Auch der im Vergleich höhere Aktivitätslevel ist beiden Personengruppen gemeinsam. Nur ist es so, dass Kinder mit ADS in Verbindung mit Hyperaktivität in allen Situationen voller Energie sind. Hochbegabte hingegen sind in der Lage, ihre überschäumende Aktivität auf bestimmte, für sie besonders interessante Themen zu lenken. So verbringen sie nicht selten auffallend viel Zeit mit ungewöhnlichen Hobbys, mit denen ihr soziales Umfeld wenig anzufangen weiß. Der Perfektionismus Hochbegabter ist legendär und hat schon so manches Genie hervorgebracht.
Leistungsverhalten
ADS-Kinder zeigen in nahezu allen Situationen starke Schwankungen in ihren Leistungen, insbesondere in der Schule. Hochbegabte Kinder hingegen können durchgehend gute Noten erzielen, wenn sie intellektuell herausgefordert werden und einen guten Draht zu ihrem Lehrer haben. Wiederholungen und andere langweilige Aufgaben sind ihnen ein Gräuel. Dann können auch sie den Unterricht boykottieren.
Aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen den Phänomenen ADS und Hochbegabung ist es nicht einfach, das eine vom anderen zu unterscheiden. Die Vermutung, dass es zu Verwechslungen kommt, liegt nahe. Eine ADS-Diagnostik sollte daher immer einen Intelligenztest einschließen. Die Kosten von etwa 200-400 Euro werden allerdings nur übernommen, wenn der Test von einem Kinder- und Jugendpsychiater oder einer Klinik durchgeführt wird. Das Testergebnis wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst: Hat das Kind gut geschlafen? Ist es hungrig? Mag das Kind den Tester? Empfindet es die Aufgaben als langweilig? Es ist möglich, dass ein Kind aufgrund einer schlechten Tagesform oder aus anderen Gründen, die mit Intelligenz nichts zu tun haben, schlechter abschneidet als es seine Veranlagung erwarten ließe. Eine mögliche Hochbegabung bliebe dann trotz Test unentdeckt. So unzulänglich IQ-Tests auch sein mögen – Schulverwaltungsämter, Lehrer und Schulpsychologen verlangen sie, wenn es etwa darum geht, dass ein Kind eine Klasse überspringen soll. Die Beobachtungen der Eltern, so subjektiv wie sie auch sein mögen, sind ein weiterer, vielleicht der wichtigere Anhaltspunkt. Leider wird ihnen vergleichsweise wenig Bedeutung beigemessen.
ADS-Diagnosen sind mit großem Aufwand verbunden und nicht immer ohne Zweifel. Sie sind um so schwieriger und erfordern Expertenwissen, wenn ein Kind gleichzeitig hochbegabt ist. Eltern sollten ihre Vermutungen Ärzten und anderen Fachleuten gegenüber äußern. Wundern Sie sich jedoch nicht, wenn diese Personen wenig Erfahrung mit dieser Thematik haben und eine Hochbegabung für ausgeschlossen halten. Bestehen Sie in jedem Fall auf Tests, die einen Vergleich mit Gleichaltrigen ermöglichen. Tests, die die intellektuellen Fähigkeiten messen, können Schwierigkeiten im Bereich Lernen und Aufmerksamkeit zu Tage fördern. Mit Persönlichkeitstests lassen sich emotionale Probleme, wie Ängste und Depressionen, als mögliche Ursache des Problemverhaltens feststellen.
Bestätigt sich der Verdacht, dass ein Kind hochbegabt und bzw. oder ADS hat, muss das schulische Umfeld den besonderen Bedürfnissen dieser Kinder Rechnung tragen. Ist dies auf der Regelschule nicht möglich, sollten Eltern einen Schulwechsel erwägen. Clemens geht heute auf ein Gymnasium und hat dank seiner Therapeutin seine Verhaltensprobleme in den Griff bekommen.